Nicolai Wolko
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Zwischen Erfolg und Sinn: Warum Software wieder Kunst werden muss

Veröffentlicht am 27. Juli 2025 - ⏱️ Ca. (wird berechnet) min. Lesezeit

Mein Ausbilder fragte mich zu Beginn meines Studiums: „Weisst du eigentlich, was der Unterschied zwischen einem Programmierer und einem Software‑Ingenieur ist?“ Eine simple Frage, deren Antwort mir den Kern unserer Zunft erklärt hat. Der Programmierer setzt das um, was ihm aufgetragen wird. Der Ingenieur hingegen muss zwischen den Zeilen lesen, das Problem durchdringen und die Bedürfnisse des Kunden verstehen – gerade dann, wenn dieser sie selbst nicht formulieren kann. Diese Fähigkeit macht aus Code eine verantwortungsvolle Kunst.

Ich erinnere mich auch noch gut an die Ehrfurcht, die ich gewissen Personen gegenüber verspürte. Gerade im Berufsleben lernte ich Menschen kennen, die man nur als „Urgesteine“ bezeichnen kann: Kollegen, die seit Jahrzehnten programmierten, die auf jede Frage eine Antwort hatten. Wenn in einem Meeting Ratlosigkeit herrschte, wurde irgendwann genau so ein Senior Ingenieur konsultiert. Und sie wussten immer nicht nur eine Antwort, sondern setzten das in der Regel auch direkt um. Überstunden? Wochenende? Nebensächlich. Es gab ein Problem, das gelöst werden musste. Sie waren lebendige Lexika, Meister ihres Fachs, Mentoren, die nicht nur Code schrieben, sondern die dahinterliegende Idee verstanden. Solche Grössen inspirieren mich noch heute – und doch sieht man sie immer seltener.

Als ich mit der Softwareentwicklung begann, war ich jung und ehrgeizig. In meiner Familie galt ich als hochintelligent und begabt und es wurden hohe Erwartungen gestellt. Die wollte ich liefern. Daher ging es mir trotz aller Bewunderung anfänglich weniger um die Kunst oder die Eleganz des Codes als um Erfolg und Anerkennung. Das Verständnis darum, was der Kunde eigentlich braucht, nutzte ich um mich hervorzutun. Ich erfüllte Aufgaben, schrieb Software, die funktionierte, und genoss den Applaus. Der Markt war heiss, der Hunger nach talentierten Entwicklern gross. Boni, Lohnversprechen: Das war erreichbar und schien das lohnende Ziel zu sein.

Vom Erreichen der Ziele zum Verlust des Sinns

Beruflich lief es gut: Ich machte Karriere, erreichte die gesteckten Ziele, konnte mir manches leisten, das einst unerreichbar schien. Doch die innere Unruhe liess nicht nach. Ich merkte, dass mich reine Erfolgsorientierung nicht glücklich machte. Die Meister, zu denen ich aufblickte, schienen ihre Freude nicht nur aus dem Ergebnis zu ziehen, sondern aus dem Prozess, aus der Liebe zum Detail, aus dem Verstehen. Bei mir drehte sich zu viel um Bonuszahlungen, Projektabschlüsse, externe Bestätigung. Es fehlte die Freude am Weg.

Diese Erkenntnis führte zu einer Phase der Selbstprüfung. Nach der Trennung einer langen Beziehung gab es Momente, in denen ich dachte, vielleicht brauchte ich einfach mehr Hobbys: mehr Sport, mehr Computerspiele, mehr Beziehungen. Ich lernte neue Menschen kennen, füllte meinen Kalender – aber die Unruhe blieb. „Du musst den Weg geniessen“ heisst es so schön. Das sagt sich leicht, aber in den stillen Momenten spürte ich, wie leer Ablenkungen ohne Sinnstiftung sein können: Das Konzert ist vorbei, das Match gewonnen – und dann? Die Frage, wofür ich meine Tage verbringe, wurde immer lauter.

Die Leere füllen: Stoische Erkenntnisse

Es dauerte lange, bis ich die Stoa entdeckte. Anfangs hielt ich sie für eine blosse philosophische Spinnerei, die man ab und zu in Zitaten findet. Doch irgendwann begann ich, mich intensiver mit den Texten von Seneca, Epiktet und Marc Aurel zu beschäftigen. Seneca schrieb: „Nicht wenig Zeit haben wir, sondern wir vergeuden viel davon“. Epiktet mahnte: „Nicht die Dinge beunruhigen uns, sondern unsere Meinungen über die Dinge“. Marc Aurel betonte: „Was nicht aus deiner Entscheidung kommt, ist weder Lob noch Tadel wert“. Diese Sätze wirkten in mir nach. Ich erkannte mich darin wieder: Ich jagte Zielen hinterher, die von aussen definiert waren, und wunderte mich, warum ich trotzdem unzufrieden war.

Stoische Philosophie lehrte mich, dass Zufriedenheit weder in der Sehnsucht nach der Zukunft noch in der Nostalgie der Vergangenheit liegt. Ein Urlaub macht nicht glücklich, wenn man ihn herbeisehnt und sich schon vor seinem Ende fürchtet. Gelassenheit entsteht, wenn man die Gegenwart vollständig annimmt – sei es ein Spaziergang, eine Mahlzeit oder eine Zeile Code. Der stoische Blick half mir zu verstehen, warum sich der „Erfolg“ leer anfühlte: weil er nur einen kurzen Moment lang existierte, bevor der nächste Auftrag begann. Dieses Denken übertrug sich langsam in den Alltag: Beim Debuggen atmete ich bewusst, nahm mir Zeit, das Problem zu verstehen, statt es hastig zu übergehen.

Der Blick auf die Gesellschaft: Verlorene Leidenschaft

Zeitgleich beobachtete ich, wie in der Branche die Leidenschaft schwindet. Viele arbeiten remote und brüsten sich damit, mit minimalem Einsatz maximale Bezahlung zu erreichen. Auf TikTok berichten Leute stolz, dass sie nur zwei Stunden pro Tag coden und den Rest der Zeit mit Serien und Games verbringen. Es geht nicht darum, Homeoffice oder Work‑Life‑Balance zu verteufeln. Aber wenn der Stolz darin besteht, so wenig wie möglich zum eigenen Werk beizutragen, dann geht etwas verloren. Firmen preisen „Agilität“ und „Velocity“, während sinnvolle Diskussionen über Architektur und Wartbarkeit kaum noch stattfinden. Robert C. Martin nannte es tragisch, dass Software‑Craftsmanship überhaupt als Bewegung entstehen musste. James Somers schrieb von den „schwindenden Tagen des Handwerks“ , und Jon Christensen beklagte den Tod des Code‑als‑Handwerks. Diese Stimmen zeigten mir, dass meine Unruhe kein Einzelfall war: Unsere Branche bewegt sich auf eine reine Erfüllungsgehilfen‑Kultur zu.

Doch statt mich frustriert zurückzulehnen oder in Zynismus zu verfallen, suchte ich nach einer anderen Haltung. Ich begann, mein Verhältnis zum Code zu verändern. Ich nahm mir Zeit, mich bewusst mit meiner Tätigkeit auseinanderzusetzen – so wie ein Tischler seine Säge vor jedem Einsatz schärft. Ich lernte, Werkzeuge zu respektieren und ihren Charakter zu verstehen. Ich fühlte mich an Norvigs Rat erinnert, dass es zehn Jahre Übung brauche, um Programmieren zu meistern und dass man die Freude am Tun nie verlieren dürfe. Ich las Donald Knuths Beschreibung von Software als Kunst, die mit Musik und Poesie verglichen werden kann. Und ich stiess auf das japanische Konzept Shokunin, das verlangt, das Material zu respektieren, sich mit seinen Werkzeugen zu identifizieren und das Werk nicht für Ruhm, sondern für die Sache selbst zu tun.

Die Rolle der KI: Werkzeug, nicht Orakel

Heute reden viele vom Ende unserer Kunst. KI‑Modelle liefern in wenigen Sekunden generischen Code. Sie wirken wie eine magische Maschine, die unendlich viel Wissen ausspeit. Es ist verlockend, ihr blind zu vertrauen – so wie der Freund von James Somers, der mithilfe von GPT‑4 in einer Nacht einen iPhone‑Prototyp erstellte. Doch diese Tools replizieren, sie verstehen nicht. Sie sind Werkzeuge, keine Orakel. Als Ingenieur muss ich wissen, was ich tue, und die Verantwortung tragen. Der Ausfall des US‑Notrufsystems wegen eines unbedachten Softwarezählers ist ein mahnendes Beispiel.

Das Ziel ist nicht, diese Technologien zu verteufeln, sondern sie bewusst einzusetzen. Sie können uns Zeit bei Routineaufgaben sparen und uns helfen, schneller Prototypen zu entwickeln. Aber sie dürfen nicht das Denken und das Nachfragen ersetzen. Eine Software, deren tiefere Logik man nicht versteht, kann im entscheidenden Moment zur Gefahr werden. Genau hier greift das alte Ideal des Ingenieurs: nicht nur auszuführen, sondern zu begreifen, warum etwas funktioniert – und wann es versagen könnte.

Der Berg als Metapher: Der Weg ist das Ziel

Wenn wir unser Berufsleben mit einer Bergbesteigung vergleichen: Wäre es sinnvoll, den Berg ausschliesslich für die Fünf-Minuten-Aussicht zu besteigen, um ihn dann missmutig mit schmerzenden Füssen wieder hinabzusteigen? Die Bergsteigenden wissen, dass die Aussicht nur ein kurzer Augenblick ist, dass die wahre Erfahrung im stundenlangen Aufstieg liegt: im steten Schritt, im Dialog mit dem Terrain, im Ringen mit der eigenen Erschöpfung, im Staunen über die Natur.

Ebenso ist es mit der Softwareentwicklung. Wer den ganzen Tag auf den Feierabend hinarbeitet, wird nie zufrieden sein. Wer dagegen jede Zeile Code als eine Stufe betrachtet, die er besteigt, spürt Sinn in der Tätigkeit selbst. Was bringt Geld, Urlaub, Autos, wenn der Weg dorthin zur Qual wird? Wenn man mehr Zeit damit verbringt, den nächsten Urlaub zu planen, als den Alltag zu geniessen, läuft etwas falsch. Die Stoa lehrt uns, dass Glück im Hier und Jetzt zu finden ist – und dass wir unsere Arbeit so gestalten sollten, dass wir uns nicht ständig aus ihr heraus sehnen.

Was aus meiner Karriere geworden ist

Nach Jahren des Suchens entschloss ich mich, mich selbstständig zu machen, um wieder Herr über meinen Weg zu sein. Ich wollte die Freiheit, mir meine Projekte auszusuchen, tiefer zu gehen und Qualität über Quantität zu stellen. Gleichzeitig wollte ich meine Werte leben: Verantwortung gegenüber meinem Werk, gegenüber meinen Kunden, gegenüber der Gesellschaft.

Ich erlebte Rückschläge, Zweifel, finanzielle Sorgen, aber auch die Freude, wenn ein Konzept wirklich verstanden, ein Problem elegant gelöst war. Ich suchte Austausch mit anderen, wie Peter Norvig empfahl. Ich las die „Ode to Mastery“ von Jaime Pillora, der mit 30'000 Stunden bewusst gelebter Erfahrung argumentiert, dass wahre Meisterschaft ein lebenslanger Prozess ist. Und ich merkte: Es geht nicht darum, perfekt zu sein oder die eine „richtige“ Technologie zu beherrschen. Es geht darum, neugierig zu bleiben, zu lernen und mit Würde zu arbeiten.

Ein Appell: Die Wahl liegt bei uns

Am Ende steht die Frage: Warum tun wir, was wir tun? Arbeiten wir für die Fünf-Minuten-Aussicht und die Gehaltserhöhung? Oder weil wir Freude am Weg haben? Ein Ingenieur entscheidet, trägt und gestaltet. Nicht, weil er muss, sondern weil er es kann. Wenn wir unsere Arbeit nur als lästige Pflicht ansehen, verlieren wir uns selbst. Wenn wir sie als Gestaltungsmöglichkeit begreifen, als Chance, Probleme tief zu verstehen und echten Wert zu schaffen, dann werden wir zu Shokunin unserer Zeit.

Der Markt wird schnelle, billige Lösungen weiterhin bevorzugen; KI‑Tools werden mächtiger. Aber niemand kann uns das Denken, das Empfinden und das Stolzsein auf eine gut gemachte Arbeit nehmen. Wir können wählen, ob wir Erfüllungsgehilfen oder Gestalter sind. So wie Seneca erkannte, dass wir Zeit verschwenden, wenn wir nicht auf das Wesentliche achten, so liegt es an uns, unsere Lebenszeit auf eine Tätigkeit zu verwenden, die wir schätzen.

Lasst uns also wieder lernen, die Zeile Code zu lieben. Auch Steve Jobs betonte stets, dass Technologie erst durch die Verbindung mit Kunst und Leidenschaft zur Magie wird. The only way to do great work is to love what you do. Lasst uns wie die alten Meister feilen, verbessern, diskutieren. Lasst uns akzeptieren, dass Software niemals perfekt ist – aber sie kann mit Herzblut, Verantwortung und Freude entstehen. Genau das ist der wahre Lohn: nicht nur das Endprodukt, sondern der Weg dorthin. Und wenn wir das leben wollen, können wir konkret anfangen: Wissen teilen, Kollegen an die Hand nehmen, Zeit fürs Refactoring einplanen, uns in Communities engagieren und nicht nur an den nächsten Urlaub denken, sondern Software-Engineering wieder als Kunst leben. Die Wahl liegt bei uns.